Beitrag: Heiligendamm mit Raureif

Erfolgreich mitgemischt: Castor? Schottern!
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ak - analyse & kritik

Dokumentiert aus der Novemberausgabe 2011 der ak - analyse & kritik:

Knapp zwei Monate vor den Castorprotesten ging die Kampagne Castor? Schottern! an die Öffentlichkeit. Am Ende unterstützen über 1.700 Organisationen und Einzelpersonen mit ihrem Namen die Aktion. Rund 4.000 Menschen beteiligten sich am 7. November an dem massenhaften Versuch, die Transportstrecke des Castorzugs durch das Entfernen des Schotters unter den Gleisen unbrauchbar zu machen. Eine erste Bilanz aus den Reihen der OrganisatorInnen.

Es ist sehr kalt und noch dunkel am frühen Morgen des 7. November, als sich die AktivistInnen in den Camps bereit machen, um zum Schottern aufzubrechen. Es sind schließlich fast 4.000 Menschen, die zielstrebig und gut organisiert ihren Weg zur Castorschiene suchen. "Die Optik erinnert an die Proteste in Heiligendamm - nur mit Raureif auf den Wiesen", schreibt die taz in ihrem Ticker.

Doch das idyllische Bild trügt. Die beiden Arme, die ihrerseits in Finger unterteilt sind, kommen - nach teilweise fast zehn Kilometern Fußweg - kurz nach 9 Uhr morgens von Norden und von Süden an den Schienen an. Dort werden sie bei dem Versuch, zu den Gleisen zu kommen, massiv von der Polizei angegriffen. Es wird mit Tonfas geprügelt und es werden Unmengen an Pfefferspray gegen die AktivistInnen eingesetzt. An einigen Stellen werden massiv CS-Gasgranaten in den Wald geschossen, so dass sich ein beißender Nebel ausbreitet.

Jetzt zeigt sich, was gute mentale und praktische Vorbereitung wert ist: Viele Menschen in den vorderen Reihen sind gepolstert, sie haben Brillen oder improvisierte Visiere aus Folie gegen das Pfefferspray. Es gibt Planen, Rollen aus Luftballons in Folie oder Gummitiere, um die prügelnde Polizei auf Abstand zu halten. Viele benutzen auch einfach die mitgebrachten Strohsäcke, um sich zu schützen. Dennoch gibt es bereits die ersten verletzten AktivistInnen.

Radikal, frech, grenzüberschreitend, mutig

In dieser Situation geschieht zum ersten Mal das Außergewöhnliche: Die Polizeigewalt wird nicht mit Gegengewalt beantwortet, obwohl das Kräfteverhältnis an manchen Stellen sehr schlecht für die Staatsmacht aussieht. Die AktivistInnen weichen aber auch nicht zurück. Stattdessen drängen sie weiter zur Schiene - schließlich sind sie gekommen, um zu schottern. Das gelingt auch einigen und es entstehen erste Löcher, bis die Finger sich aufgrund der massiven Polizeigewalt zurückziehen müssen. Eine große Anzahl Verletzer (Augenverletzungen, Kopfwunden, Brüche) auf Seiten der AtomkratftgegnerInnen hat die erste Welle gefordert.

Und wieder geschieht das Unwahrscheinliche: In den Delegiertenplena entscheiden die AktivistInnen weiter zu machen, erneut zu den Gleisen zu ziehen, um zu schottern. Sie bleiben beim Aktionsbild der Kampagne, die Polizei nicht zu attackieren, sich aber auch nicht aufhalten zu lassen. Insgesamt wird es an diesem Tag drei große Vorstöße geben, von denen insbesondere der letzte besonders erfolgreich war. Hunderte gelangen an mehreren Stellen auf die Gleise und hinterlassen deutlich sichtbare Löcher im Bahndamm. An einer Stelle bei Pomoissel wird auf einer Strecke von 150 Metern effektiv geschottert.

Wie viel das Schottern genau zur Verzögerung des Castortransports beigetragen hat, ist im Nachhinein schwer zu beziffern. Es musste jedenfalls in der Nacht am Gleis kräftig repariert werden. Das geschah in derselben Zeit, die zur Räumung der riesigen Sitzblockade auf den Schienen bei Harlingen gebraucht wurde. Diese Blockade hat in mehrfacher Hinsicht von der Schotter-Aktion profitiert: Sie konnte nur so groß und stabil werden, weil Polizeikräfte von dort abgezogen wurden, um gegen das Schottern bei Pomoissel eingesetzt zu werden - und viele AktivistInnen sind nach dem Schottern einfach weiter gezogen und haben sich dieser Blockade angeschlossen.

Der Erfolg von Castor? Schottern! misst sich am Ende nicht in Stunden Transportverzögerung oder in Kubikmetern weggeräumten Schotters, aber er ist dennoch unübersehbar: Die Kampagne hat ein Element der Dynamik und der kollektiven Regelverletzung in die Gorlebenproteste eingebracht, die der Anti-AKW-Bewegung insgesamt einfach gut getan hat. "Schottern" wurde zur Marke, selbst die Bundeskanzlerin meinte, vor dieser gefährlichen Aktion warnen zu müssen.

Noch Tage später geht es in den Talkshows, Analysen und Kommentaren um das Schottern, weil es durch das offene Bekenntnis zu einem kriminalisierten Regelverstoß einfach eine ganz starke Real-Symbolik hat. Schottern ist radikal genug, um der CDU, den Innenminister und den PolizeisprecherInnen den Geifer hervortreten zu lassen. Und Schottern ist anschlussfähig genug, dass sich die anderen Teile der Anti-AKW-Bewegung - bis weit hinein in die Linkspartei und die Grünen - nicht distanzieren, sondern öffentlich ihr Verständnis äußern. Gleichzeitig ist das Schottern nicht einfach nur ein Symbol. Wenn es die Polizei nicht mit so massiver Gewalt letztlich unterbunden hätte, wäre es zu sehr großen, in kurzer Zeit wahrscheinlich irreparablen Löchern gekommen.


Berechenbar und politisch anschlusssfähig

Ein weiterer, sehr wichtiger Erfolg von Castor? Schottern! ist die Stärkung des Selbstvertrauens der AktivistInnen. Viele Menschen sind erstmals in eine so heftige Konfrontation gegangen. Sie sind nicht zurückgewichen, als die Prügelcops kamen, haben immer wieder geschottert, so lange es ging. Für eine wirklich breite Auswertung ist es noch zu früh, aber viele AktivistInnen berichten, dass es trotz der vielen Blessuren ein sehr gutes Gefühl war, nicht wegzulaufen, sondern gemeinsam standzuhalten. Es ist zu erwarten und zu hoffen, dass - ganz ähnlich wie Heiligendamm das Konzept der Massenblockade verbreitert hat - diese neuen Erfahrungen mit einem radikalisierten und erweiterten Zivilen Ungehorsam aufgegriffen und weitergetragen werden.

Natürlich kann eine Bilanz angesichts von ca. 1.000 Verletzten nicht einfach nur positiv ausfallen. War der Aktionsvorschlag wirklich verantwortbar? War es richtig, auf Selbstverteidigung gegen die gewaltsam vorgehende Polizei zu verzichten? Reichte die mentale und materielle Vorbereitung aus? Diese Fragen können letztlich nur in der Bewegung durch die Diskussion und den Erfahrungsaustausch unter den AktivistInnen beantwortet werden.

Für die politische Wirkung war die Kampagne genau so richtig, wie sie war: radikal, frech, grenzüberschreitend, mutig auf der einen Seite, berechenbar für die Teilnehmenden, verantwortlich organisiert und politisch anschluss- und solidarisierungsfähig auf der anderen Seite. Dazu gehörte auch die offene Kommunikation, die namentliche Unterzeichnung der Absichtserklärung und eine offensive Pressearbeit.

Den Initiativen im Wendland und darüber hinaus ist die Kampagne Castor? Schottern! zu großem Dank verpflichtet. Sie hat unglaublich viel Solidarität und praktische Unterstützung von anderen AktivistInnen und der Bevölkerung im Wendland erhalten. Es war nicht selbstverständlich, dass die BI Lüchow-Dannenberg oder X tausendmal quer und WiderSetzen dem massiven staatlichen Distanzierungsdruck widerstanden haben - aber sie haben widerstanden und es ist gegenseitiges politisches Vertrauen gewachsen. Vor allem aber gilt der Dank den Bäuerinnen und Bauern, deren Blockaden die Polizei lange Zeit behinderten. Sollten sie bei einem künftigen Castortransport diese Strategie weiter ausbauen, ist das Wendland selbst für noch größere Polizeiarmeen nicht beherrschbar.

Die Kampagne Castor? Schottern! ist ein Bündnisprojekt, in dem neben autonomen Gruppen und Gruppen aus der Klimabewegung auch die Interventionistische Linke (IL) eine große Rolle spielt. Für die IL war Castor? Schottern! ein wichtiger Schritt zum weiteren organisatorischen Zusammenwachsen, der gemeinsamen Bewährung auch in konfrontativen Situationen und der Erfahrung, wie viel durch organisiertes Vorgehen erreicht werden kann. Denn letztlich hat es mit Castor? Schottern! die radikale Linke geschafft, in einem gesellschaftlichen Großkonflikt einen eigenen, wahrnehmbaren und Perspektiven eröffnenden Punkt zu setzen. Genau das ist interventionistische Politik.

Christoph Kleine, aktiv bei Avanti - Projekt undogmatische Linke/IL